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Ein Märchen aus Neuseeland

Das begnadete Klassikpop-Wunderkind Hayley Westenra schwebt zurzeit durch Deutschland

VON MARCUS LUCAS

BERLIN, 9. März. In dem Film "Vanilla Sky" gibt es eine Szene, in der Penélope Cruz auf einer Party staunend vor einem Hologramm von John Coltrane steht. Während der Jazzgott sich inmitten der Gäste in seine Saxofon-Improvisationen versenkt, greift sie durch ihn hindurch, erst zaghaft fasziniert, bald amüsiert, schließlich die flirrende Illusion übermütig mit Karateschlägen zerteilend.

Etwas Ähnliches kann sich jetzt jeder in sein Wohnzimmer holen. Auf ganz gewöhnlichen CDs gibt es ein musikalisches Hologramm namens Hayley Westenra zu kaufen, zum Beispiel unter dem Namen "Pure". Und man kann sicher sein, so etwas noch nicht erlebt zu haben. Nach dem Drücken der Play-Taste an der Digitalmusikmaschine steht diese Hayley Westenra plötzlich und unabweisbar im Raum. Zumindest ihre Stimme.

Sie spottet jeder Beschreibung

Man kann um diese Stimme herumgehen, sie betrachten, sie anfassen und vielleicht sogar in der Geisterstunde mit ihr zu einem wildromantischen alten Kate-Bush-Song tanzen. Doch halt, die Stimme ist minderjährig! 17 Jahre jung ist Hayley Westenra noch, anderthalb Millionen CDs hat sie schon verkauft. So "pure", wie es der Titel ihres dritten Albums verspricht, ist die Stimme der Sängerin, dass sie jeder abgeschriebenen Beschreibung spottet. Die Glocke, die genauso hell und transparent läutet, muss erst noch geschmiedet werden. Der Gebirgsbach, der ebenso frisch und ungetrübt vor sich hin plätschert, fließt nicht auf diesem Planeten.

Höchstens am Ende, oder Anfang, der Welt. In Neuseeland vielleicht. Dort, in der Ostküstenstadt Christchurch, lebte einst ein Juwelenhändler namens Gerald Westenra. Eines Tages wurde ihm gewahr, dass es sich bei seiner kleinen Tochter um einen außergewöhnlich funkelnden Diamanten handelte, zumal ihre Musiklehrerin bei ihr das absolute Gehör und ein Engelsstimmchen diagnostiziert hatte.

Als Sechsjährige bekam die Tochter daher Unterricht in Klavier, Violine und Blockflöte und begann zu ahnen, dass ihr kostbarstes Instrument sie selber war. Das Kind wuchs heran und begann, ein Ventil für sein überkochendes Talent suchend, mit seinen Geschwistern auf den Straßen von Christchurch zu singen. Dabei kam immerhin soviel Geld zusammen, dass Hayley eine Demo-CD produzieren konnte.

Diese CD gelangte beim Plattenkonzern Universal an die richtigen Ohren - für die der süße Sternengesang des damals 13-jährigen und auch wirklich nicht hässlich geratenen Mädchens wie eine jubilierende Melodie aus Dollarnoten geklungen haben muss.

Nach zwei hübschen Erfolgsalben, für die es schon Gold und Platin gab, ging der Marketingtraum mit "Pure" vollends in Erfüllung, der Westenra'sche Klassikpop wurde zum globalen Phänomen.
Puristen haben an "Pure" dagegen wohl weniger Freude: Pathetisch bis zur Enyagrenze inszeniert von Giles Martin, dem Sohn des Beatles-Produzenten George Martin, singt Hayley, worauf sie Lust hat: Maori-Volkstümlichkeit, Chartpop, Musical-Balladentum, Kirchenmusik, dazu mal Orff oder Vivaldi und dann Kate Bush. Manchmal alles in einem Lied. Das ist natürlich ein einziger, manchmal schwer erträglicher Kitsch. Und widerspricht krass der angenehm unkapriziösen Persönlichkeit des umjubelten Persönchens.

Ein Bodyguard unter der Orgel

Auf ihrer derzeitigen Deutschlandtournee, bei der Hayley Westenra fast ausschließlich in Kirchen auftritt, ist das ganze Drumherum folgerichtig ein paar Tonnen leichter, beschränkt auf einen Pianisten, eine Violinistin und ein paar flackernde Kandelaber. Und einen herrlich grimmigen Bodyguard unter den Orgelpfeifen.

Im Haus des Herrn gibt es zwar, anders als im Aufnahmestudio, keine Lügen. Doch fürchtet euch nicht, es gibt auch keine zu offenbaren. Die von Volvicwasser gekühlten und gesponserten Stimmbänder müssen sich nicht ein einziges Mal strecken oder zerren.

Es gibt Neues zu hören: Hayley, ein großer Fan der Schutzpatronin aller Sirenen Joni Mitchell, intoniert deren "Both Sides Now". Da fehlt es dem Teenager dann doch, trotz des perfekten Nachsingens, an Klasse und Raffinesse. Dagegen lässt sie vor allem das "Ave Maria" so ätherisch in den Saal strömen, dass auch der überzeugteste Atheist im Publikum augenblicklich schwer ins Grübeln gerät.

Hayley Westenra überwältigt am heutigen Donnerstag in Berlin, in der Kreuzberger Passionskirche.

Article provided by Lothar Jurk from Berlin


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